Warum ist die Energieversorgung so wichtig?
Die Energieversorgung prägt die wirtschaftliche Infrastruktur. Daher betrifft sie nicht nur einen Sektor, sondern durchzieht die gesamte Gesellschaft. Diese Tragweite wird in der Debatte um Klimaschutz massiv unterschätzt.
Nur den Strom auszutauschen, ändert doch nichts! So lautet ein häufiger Vorwurf innerhalb der Klimaschutzbewegung gegenüber der Energiewende. Viele Kritiker halten stattdessen einen grundsätzlichen Systemwechsel für nötig, der über die Energieversorgung hinausgeht. Denn das eigentliche Problem sei die ressourcenverschleudernde Wachstumsgesellschaft. Wer nur auf Ökostrom setze, mache es sich zu einfach. Ein bisschen Gewissensberuhigung für Schönwetter-Klimaschützer, die nichts an ihrem Leben ändern wollen. Dieser Einwand wirft die Frage auf, welche Rolle die Energieversorgung in einer Gesellschaft spielt. Sollte das nur ein technischer Aspekt sein, bei dem man ein bestehendes Stromnetz unterschiedlich befüllt, aber sonst alles gleich bleibt?
Weg von einer nur technischen Betrachtung
Zu diesem Thema hat der SPD-Politiker und Energiewende-Pionier Hermann Scheer ausführlich geforscht. Er betrachtete die Energiesysteme aus einer soziologischen Perspektive, inwiefern sie das Zusammenleben einer Gesellschaft prägen.
„Die wirtschaftlichen Tätigkeiten der Menschen sind der Kern gesellschaftlicher Entwicklungen. Der harte Kern der wirtschaftlichen Tätigkeiten wiederum ist der Einsatz verfügbarer Energie. (…) Die Geschichte der Menschheitsentwicklung war nicht zufällig immer eine der jeweiligen Möglichkeiten der Energieversorgung.“
Scheer, Hermann (1998). Sonnen-Strategie. Politik ohne Alternative. München: Piper Verlag, S.17.
Energieversorgung in der Geschichte
Das ist der große Bogen, der sich über die vielen Stufen der Geschichte spannt. Als die Menschen vor langer Zeit lernten, die Sonnenenergie in der Landwirtschaft anzuwenden, veränderte sich ihr Zusammenleben grundlegend. So entstanden in der neolithischen Revolution aus Jägern und Sammlern sesshafte Gemeinschaften.
Tausende Jahre und viele Entwicklungsschritte später folgte die Entdeckung der fossilen Rohstoffe. Dadurch erhielt die kapitalistische Entwicklung Schwung. In der Folge stellte sie die Lebensverhältnisse auf den Kopf. Aus Bauern wurden Arbeiter, die in die Städte wanderten und sich an Stundentakte gewöhnen mussten. Im Laufe der Jahre erfassten diese Umbrüche die Gesamtheit der gesellschaftlichen Ordnung. Deshalb ist die die industrielle Revolution nicht denkbar ohne die Entdeckung der fossilen Rohstoffe.
Die Lebensader
Stets war es die Art und Weise, wie die Menschen sich mit Energie versorgten, die wirtschaftliche und politische Entwicklung anschob, befeuerte, prägte und formte. Deshalb ist die Energieversorgung keine technische Frage, die nur einen Sektor beträfe, sondern eine Lebensader, die sich durch die gesamte Gesellschaft zieht.
Im Grunde genommen definieren ihre Strukturen die wesentlichen Felder: Wirtschaft, Einkommen, Arbeitsbedingungen, Umweltpolitik, Gesundheit, Bildung, Kultur und nicht zuletzt die Außenpolitik. So wurden nicht wenige Kriege geführt, um Zugang zu fossilen Ressourcen zu erhalten oder zu sichern.
In diesem Sinne schrieb Hermann Scheer:
„Immer haben sich die Fragen von Macht oder Abhängigkeit, Reichtum oder Armut, Privilegien oder Gleichheit, Untergang oder Überleben von menschlichen Gesellschaften auch danach entschieden, wer Zugang zu Energie hatte.“
Scheer, Hermann (1998). Sonnen-Strategie. Politik ohne Alternative. München: Piper Verlag, S.18.
Obwohl die Konsequenzen daraus so folgenreich sind, werden sie in der öffentlichen Debatte weit unterschätzt: Wer die Strukturen der Energieversorgung ändert, fordert den gesamten Zusammenhang der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verfassung heraus.
Frieden ist nicht alles. Aber ohne Frieden ist alles nichts.
Willy Brandt
Die Energiewende ist nicht alles. Aber ohne die Energiewende ist alles nichts.
Hermann Scheer